Happy Birthday, Guggenheim Bilbao!
- oliversdrojek
- 5. Mai 2022
- 7 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 9. Mai 2022

Frank Gehrys schillernder Riesenfisch wird in diesem Jahr fünfundzwanzig. Im Schlepptau des Museo Guggenheim Bilbao haben Stararchitekten, Künstler, Designer und Sterneköche die Stadt am Golf von Biskaya in einen Hotspot der Kultur und Kulinarik verwandelt. Seit 1997 herrscht in der baskischen Metropole eine neue Zeitrechnung. Wie lange hält der vielbeschworene Guggenheim-Effekt noch an?
Der visuelle Genuss beginnt beim Landeanflug: Eingebettet in bewaldete Berge und saftige Wiesen erstreckt sich das schneeweiße, stromlinienförmige Terminal. Sein spitzes Dach erinnert an ein Segel, den Flügelschlag eines Kranichs. Der Airport Bilbao, Nordspaniens größter Flughafen, trägt die unverwechselbare Handschrift von Santiago Calatrava: dynamisch, elegant, expressiv. Ein Flughafen der kurzen Wege, durchflutet von natürlichem Licht, mit kathedralhaft hohen Decken, getragen von schwungvollen Pfeilern und Bögen aus Stahlbeton. Keine zwanzig Minuten nach Landung und Gepäckübernahme steigt man ins Taxi oder in den lindgrünen Bizkaibus mit Hybridantrieb, der einen für drei Euro flink ins Herz der Stadt befördert. Kurz vor dem Ziel ein langer Tunnel, am Ende der Röhre beginnt die Show: Auf der Brücke La Selva geht es durch einen postmodernen Triumphbogen (Arcos rojos/Arku gorriak, Daniel Buren) über die Ría de Nervión. Zum Greifen nah schillert und glitzert am Flussufer das Guggenheim-Museum. Die Flosse des Titan-Walfisches schlägt fast ans Geländer der Brücke.

Patina, Pintxos und Primark
Schnurgerade führt die Gran Vía Don Diego Lopez de Haro ins Herz der Stadt. Die Plaza Moyúa, ein ovaler Platz mit Blumenornamenten, wird vom Hotel Carlton flankiert: Baujahr, 1926, makellos weiße Fassade, Beaux Artes-Stil. Schräg gegenüber protzt der Palacio Chávarri (1888) mit belgischen Giebeln, Erkern und Türmchen. Von hier aus fließt die Gran Vía als anderthalb Kilometer lange Arterie durch das gutbürgerliche Viertel Ensanche. Der Boulevard und die von der Plaza Moyúa sternförmig ausgehenden Alleen werden von repräsentativen Bauten der Belle Époque, des Jugendstils und der Art Déco gesäumt. In einem schlossartigen Palast (Diputación Foral de Bizkaia) residiert die Verwaltung der Provinz, deren Hauptstadt Bilbao ist. Dank Tempo 30, extrabreiter Gehwege und altem Baumbestand flaniert man entspannt durch ein Freiluftmuseum der eklektizistischen Architektur: Bankzentralen im Stil antiker Tempel, bourgeoise Residenzen mit verglasten Balkonen, Wohn- und Ballhäuser mit floralen Art Nouveau-Fassaden (Casa Montero, Teatro Campos Eliseos). Auf Schaufenster-Höhe glitzern Guess, Michael Kors und Tous. Dazwischen halten alteingesessene Maßschneider und Juweliergeschäfte die Stellung.
Wo Zara, Mango und Primark auf dem Vormarsch sind, manch einer und eine bei Starbucks und Nespresso doppelt so viel für einen Kaffee bezahlt als in angestammten Lokalen, steht das Café Iruña wie ein Fels in der Brandung. Anno 1903. Maurische Lampen tauchen die in Separees aufgeteilten Räumlichkeiten in warmes Licht. Matte Wandspiegel, andalusische Fliesen, Alhambra-Säulen, Decken mit handbemalten Holzkassetten. Dreißig Marmortische werden von würdevollen Kellnern bedient. Mit Fliege und Weste kredenzen sie hauchzarten Pata-Negra-Schinken, würzige Lammspießchen und Txakoli-Wein. Der u-förmige Tresen ist mit Pintxos drapiert: mundgerechte Häppchen Tortilla, Chorizo, Käse oder Fisch auf Weißbrot, garniert mit Oliven, Paprika und Salsa Rosa, aufgespießt am Zahnstocher. Pintxos sind die baskische Version der Tapas und das Café Iruña ist ein Hort der Tradition. Wobei das andalusische Dekor eine Ausnahme ist – traditionell steht man in Bilbao Frankreich und vor allem England näher. Very british ist die Atmosphäre in der Sociedad Bilbaina. Der 180 Jahre alte Club nach Londoner Vorbild hat seinen Sitz in einem mit Patina veredeltem Eckhaus an der Puente del Arenal vis-a-vis zum Jugendstilbahnhof La Concordia und dem klassizistischen Teatro Arriaga.

Die altehrwürdigen Gebäude und das Ensanche selbst sind Symbole der industriellen Blütezeit Bilbaos, die um 1870 begann und auf Eisen, Stahl, Schiffsbau beruhte. Aus dem Jahr 1893 stammt die Puente Vizkaya, die älteste Schwebefähre-Brücke der Welt, die sich als 160 Meter lange Eisenkonstruktion über die Flussmündung spannt. Von der 45 Meter hohen Fußgänger-Plattform hängen Stahlseile mit einer Transportbarke für Pkws und Fußgänger. In ihr schwebt man wenige Meter über dem Wasser und gelangt vom Vorort Portugalete nach Arenal und vice versa, wo im Angesicht stolzer Fabrikantenvillen der britische Einfluss auf Schritt und Tritt zu spüren ist.
Zeitenwende
Ab 1975 ging es mit der Industrie bergab. Das Ende der Franco-Diktatur und des Protektionismus, die Globalisierung und schließlich die große Flut von 1983 machten den Hochöfen und Schiffswerften den Garaus. Harte Jahre: Massenarbeitslosigkeit, Straßenschlachten, ETA-Bomben, keine Touristen. Zu jener Zeit hatte auch in Madrid oder Barcelona kaum jemand Lust auf einen Trip ins Baskenland. Im Hochsommer 1983 vermieste eine Woche Dauerregen das Volksfest Semana Grande. Am 26. August trat die Ría de Nervión über die Ufer. Die braune Brühe des damals kontaminierten Fjords flutete die Altstadt und Industrieanlagen. Existenzen gingen zu Bruch, Menschen starben. Die Werft Euskaduna, in der einst bis zu 20.000 Arbeiter schufteten, machte 1988 dicht. Jetzt blieb nur noch die Flucht nach vorn. 1991/92 kommt die Stadt für rund 100 Millionen U.S.-Dollar mit der New Yorker Guggenheim-Stiftung ins Geschäft. Einige Menschen im krisengeschüttelten Bilbao bringt das auf die Palme. Den Wettbewerb gewinnt Frank Gehry (das O. zwischen dem Vor- und Nachnamen ist nicht verpflichtend). Der aus Kanada stammende Pritzker-Preisträger 1988 war bereits ein anerkannter Meister des Dekonstruktivismus. Entgegen den ursprünglichen Plänen der Stadt, das abgetakelte Lagerhaus Alhondiga umzubauen, setzte Gehry auf das Ufer der Ría und die Sanierung des heruntergekommenen Industrieareals. Damit schuf er für sein skulpturales Großwerk eine von allen Seiten sichtbare Bühne. Die Bauarbeiten begannen 1993. Parallel dazu entsteht die Linie 1 der Metro Bilbao. Der Brite Norman Foster, Pritzker-Preisträger 1999, konzipierte die U-Bahnhöfe als luftige Kavernen mit gewölbten Decken aus Sichtbeton und aufgehängten Edelstahl-Plattformen. Das Markenzeichen sind die Rolltreppeneingänge mit schlauchförmigen Glasüberdachungen. Abends leuchten sie wie Glühwürmchen, Fosteritos genannt - ein minimalistisch-funktionales Pendant zu den Pariser Metro-Eingängen.

Die U-Bahn ging 1995 in Betrieb, zwei Jahre später wurde das Museo Guggenheim de Bilbao von König Juan Carlos eingeweiht. Auf der Eröffnungsgala bestaunten 800 Gäste, darunter viel internationale Prominenz von Bianca Jaegger bis Dennis Hopper, das exzentrische Bauwerk. Von außen erinnert es je nach Standpunkt, Lichtverhältnissen und individueller Fantasie an ein zerborstenes Schiff, einen Riesenfisch, ein Ufo, eine Achterbahn. Oder vielleicht eine Artischocke? Ecken und Geraden scheinen nicht zu existieren, alles ist ineinander verschachtelt, fließt zusammen oder auseinander. Gehrys extremer Dekonstruktivismus ist eine Herausforderung an die Schwerkraft, nicht nur außen, auch innen: Ausgehend vom 50 Meter hohen Atrium bewegt man sich durch ein verwirrend-faszinierendes Labyrinth mit drei Ebenen und 20 Ausstellungsräumen. In der größten Halle (130 x 30 m) hat Richard Serras gigantische Skulptur The Matter of Time Platz. Überall kurvige Gänge, versteckte Nischen, gewölbte Decken und Wände. Bei diesem Tanz der fließenden Formen und Volumina kann einem schon mal schwindlig werden. William Dafoe schreibt 2005 ins Gästebuch: „I'm dizzy! Dizzy-Dizzy!“
Kunst aus der Nebelkanone
Um die Gebäude-Skulptur mit 32.500 Quadratmeter Fläche führt ein zwei Kilometer langer Parcour aus Gehwegen, Treppen und Rampen. Vor dem Haupteingang grüßt Puppy: Die zwölf Meter hohe Hündchen-Skulptur von Jeff Koons ist ein vertikaler Garten mit Tausenden von Blumen. Gar nicht niedlich ist Maman von Louise Bourgeoise, eine neun Meter hohe Spinne aus Bronze und Metall. Dort, auf der Mole fast unterhalb der Brücke La Selva, steigen zu jeder vollen Stunde Nebelschwaden auf. Die wabernde Konzeptkunst (Fog Sculpture #08025 F.O.G), ersonnen von Fujiko Nakaya, umhüllt das Museum und verwandelt die Passanten in Gespenster.
Spannend wird es nach Einbruch der Dunkelheit. Dann brennen Feuerfontänen von Yves Klein über dem Wasser, glühen Gehrys Titanplatten wie flüssiges Gold. Natürlich darf an diesem kreativen Brennpunkt ein Sterne-Restaurant nicht fehlen, schließlich sind wir im Baskenland, Spaniens Region mit der höchsten Dichte an Gourmetrestaurants (24 Lokale, 34 Sterne). Im Nerua Guggenheim Bilbao zelebriert der baskische Chef Josean Alija eine lokale Fusionsküche, inspiriert vom Zusammenfluss von Süß- und Salzwasser im Fjord, den man beim Schlemmen im Blick hat. Die frischen Produkte aus dem Meer, vom Acker und von der Weide werden in minutiös komponierten Degustationsmenüs visuell in Szene gesetzt wie Kunstwerke. Das Nerua ist eines von sechs Sterne-Restaurants in der Stadt. Auch Kochkönig Martín Berasategui, der aus San Sebastián stammt und zwölf Sterne in der Krone hat (Guide Michelin 2022), ist in Bilbao mit zwei Etablissements präsent.
Geht noch mehr?
Angespornt vom Höhenflug des Gehry-Kunsttempels, der im Rekordjahr 2019 fast 1,7 Million Besucher zählte, haben Stararchitekten aus dem In- und Ausland die 350.000-Einwohner-Stadt in einen Showroom der zeitgenössischen Baukunst verwandelt. In einem Radius von fünf Kilometern bietet sich die Gelegenheit, die stilistisch vollkommen unterschiedlichen Werke und Visionen von sieben Pritzker-Preisträgern zu betrachten - neben Gehry und Foster Álvaro Siza Viera, Rafael Moneo, Richard Rogers, Isozaki Atea und Zaha Hadid. Auf dem Gelände der früheren Werft musiziert das Bilbao Symphony Orchestra im Konzert- und Kongresszentrum Euskalduna, zum Guggenheim-Jubiläum wird Altmeister James Taylor („Country Road“) erwartet. Philipp Starck verwandelte das Lagerhaus Alhondiga, das Gehry ad acta gelegt hatte, in ein Labor zeitgenössischer Kultur. Im 2010 eröffneten Azkuna Zentro entwickeln und präsentieren Designer, Maler, Tänzer, Choreographen und Filmemacher ihre Projekte. Ein Besuchermagnet ist das Atrium mit 43 Säulen aus Marmor, Holz, Bronze, Zement und Stahl – jede einzelne Säule hat eine andere Form, symbolisiert verschiedene Epochen und Zivilisationen.

Im gleichen Jahr öffnete sich der Vorhang für die Bilbao Arena. Der mit grünen Rhomben aus Aluminium verkleidete Sport- und Konzertpalast wurde 2011 von Arch Daily prämiert. Er ist das Wahrzeichen im neuen Viertel Miribilla 2,5 km südlich vom Guggenheim und mit der S-Bahn schnell zu erreichen. Die Station liegt 50 Meter unter der Erde, sechs gläserne Panorama-Aufzüge führen ins Freie, wo es zwei weitere Architektur-Hingucker zu entdecken gibt: Iglesia Santa Maria Josefa mit einem transparenten Kirchturm und Frontón Bizkaia, ein schwarzer Monolith, in dem der baskische Nationalsport Pelota Vasca beheimatet ist.
Der vielbeschworene Guggenheim-Effekt als Paradigma für das Relaunche einer ganzen Stadt: Dass er auch nach 25 Jahren noch nicht vorbei ist, zeigt der ambitionierte Masterplan Zorrotzaurre der 2016 verstorbenen Architektin Zaha Hadid. Vis-a-vis zum fotogenen San Mamés-Stadion von Athletic Bilbao soll auf einer Flussinsel ein Modell-Viertel des 21. Jahrhunderts entstehen. Auf 80 Hektar sanierter Industriefläche setzt das Projekt auf Nachhaltigkeit und einen smarten Mix aus Wohnen und Arbeiten. Die Planer versprechen bezahlbaren Wohnraum, der bei einem Kaufpreis von durchschnittlich über 3.000 Euro pro Quadratmeter auch in Bilbao Mangelware ist. Die ersten Smarties haben sich bereits auf der Insel der Glückseligen niedergelassen. Rund um die Designschule IED Kunsthal (mit einem L), die Häuser Beta 1 und Beta 2 mit geothermischer Klimatechnik und die e-game-Schmiede DigiPen soll ein Hub der Startups gedeihen.
Zoff um Zubizuri
Es bestehen gute Chancen auf Erfolg. Etwas anderes will man sich in der seit 25 Jahren erfolgsverwöhnten Stadt, Motor einer prosperierenden Metropolregion mit 870.000 Einwohnern, auch gar nicht vorstellen. Jedoch kann man auch in Bilbao ein Lied davon singen, dass so manche geniale Architektenidee den Realitätscheck nicht besteht. Im Jahr Null der neuen Zeitrechnung wurde die Fußgängerbrücke Zubizuri eingeweiht: eine grazile Bogen-Konstruktion aus weiß lackiertem Stahl mit Glasboden, durch die man aufs Wasser blickt. Effektvoll beleuchtet, ist die Zubizuri abends besonders schön. Dass die Brücke mit dreijähriger Verspätung in Betrieb ging und teurer war als ursprünglich geplant, wurde schnell verziehen. Jedoch stellte sich die gläserne Passerelle bei durchschnittlich 128 Regentagen im Jahr als glitschiges Ärgernis heraus. Die Lösung? Anti-Rutsch-Bänder. Unästhetisch!, fand der Architekt, der aus dem sonnigen Valencia stammt. Die Stadt musste auf eigene Kosten nachbessern. Noch weniger gefiel dem berühmten Baumeister eine nachträglich gebaute Zugangsrampe zum Hochhaus-Ensemble von Isozaki Atea. Er klagte und kassierte eine Entschädigung. Damit nicht genug: Immer wieder monieren Experten neue Konstruktionsfehler. Anfang 2022 musste das defekte Beleuchtungssystem ausgetauscht werden. Preisfrage: Welcher Stararchitekt hat die Zubizuri-Brücke entworfen?

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