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Totgesagte leben länger

  • oliversdrojek
  • 8. Nov.
  • 12 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 26. Nov.

Street-Art, mehr Grün und ein offenes Herz für LGBTQIA+: Torremolinos, die Keimzelle des Massentourismus an der Costa del Sol, beschwört den Glanz vergangener Zeiten und bemüht sich, das Image einer seelenlosen Touristenhochburg abzustreifen.


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„Wunderschön! Die Architektur, die Keramik, die Pflanzen“. Die ältere Dame mit süddeutschem Akzent ist entzückt - „wären da nicht die Betonklötze drumherum“. Woran sich die Touristin erfreut, ist die Casa de los Navajas, eine großbürgerliche Sommerresidenz von 1925 im Stil des Neo-Mudéjar mit maurischen Bögen und verspielten Rundtürmen. Der von der Alhambra inspirierte Palacio ist eine der wenigen Sehenswürdigkeiten von Torremolinos, die dem traditionellen Andalusien-Klischee gerecht werden. Das Drumherum: Das sind die Hotels und Appartementblöcke mit bis zu fünfzehn Stockwerken, zwischen denen das Schmuckkästchen eingequetscht ist.



Der erste Topless

Die Casa de los Navajas stammt aus einer Zeit, als Torremolinos ein Fischerdorf mit ein paar hundert Einwohnern war. Zu den wenigen großbürgerlichen Residenzen zählte das Castillo del Inglés, eine ehemalige Seefestung auf der Felsspitze Punta de Torremolinos zwischen den Stränden Carihuela und Bajondillo. Hier wohnte Sir George Langworth; ab Ende der 1920er diente sein Haus als Hotel. 1930 beherbergte es zwei Gäste, die wenige Jahre später unsterbliche Berühmtheit erlangten: Salvador Dalí und Gala. Die aus Russland stammende Ehefrau des französischen Dichters Paul Éluard hatte den Shooting-Star des Surrealismus kurz zuvor in Katalonien kennengelernt und war mit ihm nach Torremolinos durchgebrannt.

Der gemeinsame Aufenthalt ist auf mehreren Fotografien dokumentiert. Eine davon, von Dalí selbst aufgenommen, zeigt Gala mit blankem Busen im gleißenden Sonnenlicht. Diese Szene diente als Vorlage für eine Bronzeskulptur an der Punta de Torremolinos. Auf einer Tafel mit einer Kopie des Originalmotivs wird erklärt, es handele sich um die „erste Topless-Darstellung an der Costa del Sol“. Gala habe in Torremolinos „öffentlich die Befreiung der Frau initiiert“.


Hommage an Gala: Skulptur an der Strandpromenade
Hommage an Gala: Skulptur an der Strandpromenade

Ob Dalís Muse 1930 tatsächlich in der Öffentlichkeit blankzog oder dies im privaten Rahmen tat, ist aus Sicht des Stadtmarketings wohl eher eine nebensächliche Frage. Künstlerische Artefakte wie diese, die das Stadtbild verschönern sollen, stricken am Mythos von Torremolinos – historische Genauigkeit spielt dabei nicht immer die Hauptrolle.



Wie dem auch sei: Spätestens 1937 war es mit der Freizügigkeit in Torremolinos vorbei. In diesem zweiten Jahr des spanischen Bürgerkrieges fiel Málaga in die Hände der Franco-Truppen. Tausende Anhänger der Republik flüchteten, wurden exekutiert oder in Konzentrationslager gesteckt. Eines davon befand sich in Torremolinos. In einem historischen Dokument von 1939 wird die Zahl der Gefangenen auf über 1.900 beziffert – nicht nur überzeugte Republikaner und Fahnenflüchtige, sondern auch Homosexuelle und Gitanos. Während der bis 1975 andauernden Franco-Diktatur wurde jede Erinnerung an diesen Ort unterdrückt. Auch in den ersten Jahren der Demokratie fand keine Aufarbeitung statt. 1984 eröffnete an derselben Stelle einer der ersten Wasserparks Spaniens: Aqualand Torremolinos heißt er heute, eine der beliebtesten Attraktionen an der Sonnenküste. Ein Denkmal für die Opfer des spanischen Faschismus gibt es nicht, obwohl die Memoria Histórica seit 2007 per Gesetz unterstützt wird.


Brigitte Bardot und der Esel

In den ersten Jahren nach dem Bürgerkrieg brachte der Fremdenverkehr nur wenige Peseten nach Torremolinos. Dank der Nähe zum Flughafen Málaga, der ab 1946 an Madrid und Paris angebunden war, konnten sich kleine Herbergen mit bescheidenem Luxus wie Parador de Montemar und Hotel La Roca über Wasser halten. Die Hauptkundschaft bestand aus betuchten Engländern – viele reisten vom damals noch eine halbe Tagesreise entfernten Gibraltar an – sowie aus Franzosen auf Petit Tour zwischen Paris und Tanger.

Währenddessen herrschte bittere Armut rund um den halbzerfallenen Torre Pimentel, jenem Wehrturm aus maurischer Zeit, dem Torremolinos die Hälfte seines Namens verdankt. Ein verblasstes Abbild von dem, wie das Leben damals war, geben historische Fotografien, die man heute unweit des Turms im Centro de Interpretación Turística sowie in den Lobbys einiger Hotels betrachten kann: staubige Straßen, barfüßige Kinder, Eselskarren.



Über dieser Welt gehen ab 1950 neue Sterne auf: Rita Hayworth, Ava Gardner und Grace Kelly machen Station in Torremolinos. Die Diven verweilten teils privat, teils beruflich in Spanien. Das Land war bei Aristokraten und Magnaten en vogue und entwickelte sich zum begehrten Drehort internationaler Film-Produktionen.

1957 trifft Brigitte Bardot ein und bezieht Quartier im Parador de Montemar, einer rustikal-exklusiven Herberge, die Jahrzehnte später einem Appartement-Komplex Platz weichen musste. Die 23-Jährige dreht unter der Regie ihres ersten Ehemanns Roger Vadim den Film Les Bijoutiers du clair de lune (deutscher Titel: In ihren Augen ist immer Nacht). Zwischen den Dreharbeiten, die auch in Mijas und in der Schlucht El Chorro stattfanden, soll sich die blonde Sexbombe hüllenlos am Strand gesonnt haben. Zu den wahren – oder von Vadim ausgeschmückten – Geschichten gehört, dass Bardot einen tierischen Nebendarsteller des Films, ein Esel namens Romeo, so sehr ins Herz schloss, dass sie ihn kurzerhand mit in ihr Zimmer nahm. Der Aufenthalt der jungen Bardot ist ausführlich dokumentiert. Ein Schwarzweißfoto, auf dem die Filmikone mit Sombrero posiert, diente als Vorlage für ein Street-Art-Wandbild des Künstlers Guillermo Paz, alias Nesui SRC, der im öffentlichen Auftrag etliche Fassaden bemalt hat.


Brigitte Bardot Torremolinos Street-Art
 Hommage an Brigitte Bardot: Street-Art an der Plaza Costa del Sol

Dichtung und Wahrheit in der Sinatra-Bar

Um die internationale High Society standesgemäß empfangen zu können, öffnet 1959 das erste Fünf-Sterne-Hotel: das Pez Espada. Es ist das Jahr, in dem US-Präsident Dwight D. Eisenhower zum Staatsbesuch nach Madrid reist und damit das Ende der politischen und wirtschaftlichen Isolation Spaniens besiegelt. Heute hat das Pez Espada („Schwertfisch“) zwar einen Stern weniger – der eleganten, von Miami Beach inspirierten Architektur schadet das jedoch nicht.


Hotel Pez Espada Torremolinos
Früher fünf Sterne, heute nur noch vier: Hotel Pez Espada

Von der Rezeption gleitet man auf spiegelglattem Marmorboden mit Nierenmustern durch die als Passage angelegte Lobby zur zentralen Bar mit Dance Floor und Sonnenterrasse über dem Carihuela-Strand. An den beigefarbenen Wände hängen ikonische Porträts legendärer Hollywoodstars wie Ingrid Bergman, Anthony Quinn, Marlon Brando und Sophia Loren. Alles, was in den 1950er bis 1970ern Rang und Namen hatte, scheint hier ein- und ausgegangen zu sein. Die Hall of Fame umfasst signierte Porträts u.a. des Königs von Saudi-Arabien, Julio Iglesias und Sean Connery alias James Bond.



Aus gutem Grund gibt es eine „Frank‘s Bar“: Frank Sinatra checkte im September 1964 im Pez Espada ein – und sorgte schon am nächsten Tag für einen Skandal. Der Grund für den Aufenthalt waren die Dreharbeiten für die letzten Szenen des Kriegsfilms Colonel von Ryans Express. Nach dem ersten Drehtag in der Schlucht von El Chorro kehrte der Hauptdarsteller gegen Mitternacht in der Hotelbar ein. Es kam zum Streit mit einer jungen kubanischen Schauspielerin, die Frankie Boy ihren Whisky ins Gesicht schüttete. Der Vorfall führte zur seiner mehrstündigen Festsetzung im Kommissariat von Málaga – auch deshalb, weil er lautstark Franco verflucht und vor dem offiziellen Porträt des Diktators ausgespuckt haben soll. Auf der Wache gab The Voice zu Protokoll, die Kubanerin, ein spanischer Journalist und ein Fotograf hätten ihm eine Falle gestellt. Die Gegenseite berichtete hingegen von Zudringlichkeiten, aggressiven Bodyguards und einer Verfolgungsjagd im Cadillac.  Nach Intervention der amerikanischen Botschaft und Zahlung von 25.000 Peseten wurde Sinatra freigelassen und direkt von der Polizei in ein Flugzeug nach Paris gesetzt. Franco persönlich soll dafür gesorgt haben.

 


Schade, dass in „Frank’s Bar“ weder Fly me to the Moon noch My Way zu hören sind. Trotzdem ist es unterhaltsam, zwischen alten Plattencovers und Zeitungausschnitten einen Cocktail zu schlürfen und sich mit den verschiedenen Versionen der Story zu beschäftigen.  Man fragt sich, ob das Telegramm, das Ol’ Blue Eyes nach seiner Ausweisung angeblich an Franco schickte – in dem er dem Diktator den Tod wünschte – Dichtung oder Wahrheit ist.


Torremolinos Carihuela Street-Art Sinatra
Hommage an Frank Sinatra: Street-Art am Carihuela-Strand

Auge in Auge mit Ava Gardner

Eine Diva, um die in Torremolinos ein regelrechter Kult getrieben wird, ist Ava Gardner, die seit den Dreharbeiten an der Costa Brava zu Pandora und der fliegende Holländer (1951) viel in Spanien unterwegs war und zeitweise in Madrid lebte. Im Pez Espada begegnet man ihr als Venus im geschlitzten Kleid, aus dem eines ihrer himmlischen Beine hervorschlüpft; als sportliche Nixe im Badeanzug (nicht in Torremolinos, sondern 1945 in Kalifornien); und Wange an Wange mit Sinatra (nicht im Pez Espada, sondern nach ihrer Hochzeit 1951). 



Ein paar Straßen weiter blickt die von Metro Goldwyn Mayer zum „schönsten Tier der Welt“ stilisierte Hauptdarstellerin von Die barfüßige Gräfin und Mogambo von der Fassade des Hotels Princesa Solar. Das großformatige Wandbild, ein weiteres Werk von Nesui SRC, wertet die ansonsten glamourfreie Ecke optisch etwas auf. Trotzdem sieht Torremolinos hier so aus, wie man sich eine aus der Mode gekommene Touristenhochburg vorstellt.  


Torremolinos Ava Gardner Street-Art
Hommage an Ava Gardner: Street-Art oberhalb des Bajondillo-Strandes

Im Umfeld der Casa de los Navajas, an der Seitenfassade eines Appartementblocks, hat die Street-Art-Gruppe Graffiti Media die Filmgöttin in pinke Wunderblumen eingerahmt.  Und natürlich ist auch eine Straße nach ihr benannt. Die Calle Ava Gardener liegt abseits vom Zentrum in einer neueren Urbanisation mit geschlossenen Wohnanlagen, in der die Kaufpreise über dem lokalen Durchschnitt von 3.700 €/m² liegen. Doch außer Mauern, Zäunen und akkurat gestutzten Palmen gibt es hier wenig zu sehen.  


Die Kinder von Torremolinos

Also gehen wir dorthin, wo das Leben pulsiert: in die Calle San Miguel, wo in Bodegas und Eiscafés im Sommer wie im Winter reger Trubel herrscht. Auch Schuhläden, Souvenirshops und Nagelstudios brauchen sich über mangelnde Kundschaft nicht beklagen.



Fast mittendrin liegt die Iglesia de San Miguel Arcángel, die älteste Kirche von Torremolinos. Sie ging nach der Reconquista aus einer Moschee hervor und erhielt ihre heutige Gestalt im 18. Jahrhundert. In dem weißgekalkten Gotteshaus, das dem Erzengel Michael geweiht ist, erlebt man bei Messen und religiösen Festen, dass die über 70.000 Einwohner zählende Stadt nicht nur aus Touristen besteht, sondern auch aus Spaniern, die ihre Traditionen mit Leidenschaft pflegen.

Während der Semana Santa wird die Kirche der Dreh- und Angelpunkt glanzvoller Osterprozessionen. Wie überall in Andalusien ist dies die Zeit der langspitzigen Kapuzen und Mantilla-Hauben, des Weihrauchs und der feierlich-getragenen Musik. Bruder- und neuerdings auch Schwesternschaften tragen die geschnitzten, brokatumhüllten Abbilder von Jesus und der Jungfrau Maria durch die Straßen.

Das Zentrum rund um die Calle San Miguel wurde in den letzten Jahren in eine autofreie Flaniermeile mit Palmen, Sonnensegeln, Springbrunnen, Sitzbänken und Spielplätzen umgewandelt. Ein Hingucker ist der Clock Tower, ein Eckgebäude mit Wanduhr, wo ein psychedelischer John Lennon über dem Treiben schwebt.


Torremolinos Street-Art John Lennon

Die Wandmalerei erinnert daran, dass der Beatle-Star 1963 zusammen mit Manager Brian Epstein zwei Wochen in Torremolinos verbrachte. Der frisch mit Yoko Ono verheiratete Lennon und der schwule Impresario fanden hier ein freizügigeres Ambiente vor als in Liverpool.

Damals florierten Lokale wie Le Fiacre, in dem Go-Go-Boys in Käfigen tanzten, und Pourquoi Pas?, Spaniens erste Lesben-Bar, eröffnet von einer Deutschen. Es war die Zeit, die den US-amerikanischen Schriftsteller James A. Michener zu seinem Roman Die Kinder von Torremolinos inspirierte. „In Torremolinos, da gibt es nur Musik am Strand und junge Menschen, die ihren Kalender vergessen haben“, heißt es in dem 1971 erschienenen Buch, das zum internationalen Bestseller avancierte. Im Text ist Torremolinos „ein Refugium für jene, die dem Wahnsinn der Welt entgehen wollen“. Das waren damals nicht nur sinn- und drogensuchende Aussteiger aus den USA und Westeuropa, sondern auch Spanier, die in Torremolinos Freiheiten genossen, die in Madrid oder Barcelona undenkbar waren. Das Epizentrum des libertären Bebens lag nahe der Calle San Miguel, in der Pasaje Begoña. In der Passage traf sich die schwule und lesbische Szene – nicht wie heute in Cruising-Bars oder LGBTQIA+friendly Hotels, sondern in gemischten Lokalen, die als Sündenpfuhle galten, aber beinahe ein Jahrzehnt lang unbehelligt blieben.


Zubetonierte Träume

Im selben Jahr, in dem Die Kinder von Torremolinos erschien, war damit Schluss. Im Juni 1971 kam es zu einer großangelegten Razzia mit Hunderten Polizisten. Über zwanzig Nachtbars wurden geschlossen. Die Kinder von Torremolinos landeten auf dem Kommissariat von Málaga. Wer einen ausländischen Pass hatte, wurde schnell freigelassen. „Viele zogen nach Ibiza weiter“, berichtete Sandra Montiel 2018 in Vanity Fair. Die Dragqueen, ein Double der spanischen Entertainerin Sara Montiel, wurde ins Gefängnis gesperrt und schikaniert – ein Schicksal, dass viele der verhafteten Spanier erlitten. Sandra Montiel, die in Pedro Almodóvars Film La mala educación (deutscher Titel: Die schlechte Erziehung) zu sehen ist, 2021 mit der Ehrenmedaille von Torremolinos ausgezeichnet wurde und 2023 verstarb, resümierte in Vanity Fair: „Nichts sollte mehr sein wie früher.“



Heute ist die Pasaje Begoña ein verwahrloster Ort ohne Leben. Zwar wurde die Passage 2018 vom spanischen Parlament als „Ort historischer Erinnerung und Wiege der LGTBI-Freiheiten und -Rechte“ anerkannt (noch ohne Q, A und +) und mit bunten Graffiti-Bildern bemalt, aber die Szene trifft sich heute an anderer Stelle. Das Drumherum ist architektonische Tristesse aus der Zeit, als der Bauboom seinen Höhepunkt erreichte. Das ehemalige Fischerdorf wurde unter Beton begraben „wie Pompeji unter dem Aschenregen des Vesuv“, schrieb der Reisebuchautor Wolfgang Boller 1974 in einem Zeit-Artikel, der Torremolinos als Urlaubs-Disneyland porträtiert.


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Den Boom befeuerten Reiseveranstalter, Hotels und internationale Investoren, die in Rekordzeit Hunderte von Blöcken hochzogen und Wohnungen an sonnen- und renditehungrige West- und Nordeuropäer verkauften. „Die planmäßige Eroberung Spaniens durch Ferienhaus-Germanen“ (Der Spiegel, 1975) wurde dadurch ermöglicht, dass Bau- und Bodenpreise „oft nur bei 20 Prozent des deutschen Niveaus“ lagen. Vieles, was damals entstand, war von minderwertiger Qualität. Der spanischen Sprache nicht mächtig, fühlten sich viele ausländische Immobilienbesitzer hilflos gegenüber Bauherren, Handwerkern und Beamten.

In einem dieser Betonklötze hat die 1973 gegründete „Deutsche und Schweizerische Schutzgemeinschaft für Auslandsgrundbesitz e.V.“ noch heute ein Büro. Neben Deutschen, Briten, Schweizern, Österreichern, Holländern und Belgiern kamen auch viele Skandinavier. Um blonde Schwedinnen am Strand, mit Bikini oder oben ohne, rankte sich in Spanien ein verklemmt-erotischer Mythos, den Dutzende in Torremolinos und Benidorm gedrehte Filme anheizten.


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Deutsche Rentner und Hooligans

Angezogen von diesem Ruf – und begünstigt durch den wachsenden Wohlstand – strömten bald auch viele Spanier nach Torremolinos, als Urlauber wie als Arbeitskräfte. 1988 spaltete sich die inzwischen über 25.000 Einwohner zählende Gemeinde von Málaga ab. „Inzwischen bestimmt hier eine fest etablierte europäische Gemeinschaft von Ruheständlern das Bild“, schrieb die taz im selben Jahr unter der Überschrift „Die Rentner von Torremolinos“. Der Autor Friedhelm Roth sieht über den Dächern von Torremolinos „ein Panorama, das an alarmierender Scheußlichkeit nichts zu wünschen übriglässt“ und stellt sich bange die Frage: „Wie soll das alles einmal enden?“


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Was der Autor übersah oder nicht sehen wollte: Torremolinos war kein Touristen-Ghetto, sondern ein wachsender Ort auf dem Weg zur Großstadt. „Hier war das Zentrum der Movida malagueña, aus der Kult-Bands wie Tabletom und Danza Invisible hervorgingen“, berichtet Suzette Moncrief, eine aus New York stammende Soulsängerin, die hier 1990 zur Lito Blues Band stieß. Die Jugend amüsierte sich damals nicht wie heute vor allem in Málaga, sondern in Torremolinos. Als auch Hooligans aus UK über Torremolinos herfielen, in Brunnen pinkelten und in den Hotels randalierten, war es vorbei mit dem guten Ruf des Urlaubsparadieses. Wer es sich leisten konnte, fuhr weiter nach Marbella. Deutsche Andalusien-Urlauber zog es nun verstärkt an die Costa de la Luz. Am Atlantik waren Wetter und See zwar etwas rauer, doch in nagelneuen Golfresorts wie Novo Sancti Petri mit gepflegten Golfplätzen und horizontal statt vertikal erbauten Hotels blieb man unter sich, und abends herrschte Ruhe.


Somewhere over the Rainbow

2014 kam Torremolinos in Deutschland ins Kino: Die Komödie Alles inklusive von Dorris Dörries ist eine Groteske über menschliche und touristische Dekadenz. In einem All-inclusive-Billighotel hängt die in die Jahre gekommene Ingrid (Hannelore Elsner) den Erinnerungen ihres Hippielebens am Strand von Torremolinos nach. Die Gegenwarts-Szenen wurden am Originalschauplatz in einem Hotel bei laufendem Betrieb gedreht, die Rückblenden 75 km weiter östlich in Nerja.

Angesichts schlechter Presse und rückläufiger Besucherzahlen aus dem Ausland kündigte der 2015 der frisch gewählte Bürgermeister José Ortiz an: „Innerhalb von zwei Jahren werden wir das dekadente Image ändern“. Unter der Regie des Sozialdemokraten begann eine Stadterneuerung, die von seiner Nachfolgerin Margarita del Cid (konservative Partido Popular) fortgeführt wird. Auch die Hotelbranche erkannte die Zeichen der Zeit. Die großen Ketten wie Meliá und Riu investierten allein zwischen 2014 und 2017 über 300 Millionen Euro in Torremolinos.

Das Ergebnis der privaten und öffentlichen Anstrengungen kann sich sehen lassen: Die meisten Hotels sind auf dem neuesten Stand, Fußgängerzonen und Grünflächen wurden ausgeweitet, die Strand- und Stadtreinigung funktioniert gut – zumindest überall dort, wo Touristen in der Sonne liegen und flanieren. Viel Unterstützung von beiden Seiten, privat wie öffentlich, erhielt auch das Bestreben, Torremolinos als gay-friendly zu profilieren.


Torremolinos Strand LGBTQIA+

Im Juni 2015 fand die erste Pride-Parade statt. Am zentralen Umzug von Pride Torremolinos 2025 nahmen rund 100.000 Menschen teil. Das einwöchige Event zieht Besucher aus der ganzen Welt an und generierte einen Umsatz von zuletzt fast 100 Millionen Euro. Ein halbes Jahrhundert nach der Razzia in der Pasaje Begoña floriert die queere Szene wie nie zuvor. Heute heißt der Hotspot Nogalera. Rund um diesen labyrinthischen Komplex aus Hochhäusern mit Ladengalerien und begrünten Innenhöfen, aber auch an der Calle San Miguel und in Beachbars wie dem Paraíso, schillert Torremolinos in den Farben des Regenbogens. Rot, Orange, Gelb, Grün, Blau, Indigo und Violett erstrahlt nach Sonnuntergang das Hotel Ritual. Torremolinos gehört heute zu den Top-Zielen für LGBTQ+-Reisende in Spanien.


Mühlen im Paradiesgarten

Das Nachtleben besteht aber nicht nur aus Läden wie Exxxtreme /Conexxxtion, Men’s Bar oder XXL. Im Atrévete tanzen Schwul und Hetero, Jung und Alt, auf drei Etagen Salsa, Bachata, Reggaeton und Kizomba. Die Latino-Abende beginnen mit kostenlosen Tanzstunden, bei denen Einheimische und Touristen neue Schritte lernen. Der im New Yorker Stil dekorierte Clarence Jazz Club ist eine Bühne für spanische und internationale Musiker mit Schwerpunkt auf Latin Jazz.

Im Sommer organisiert der Club Open-Air-Konzerte ohne Eintritt im Parque de la Batería.

Der 74.000 Quadratmeter große Park gehört zu den neueren Grünanlagen der Stadt und entstand rund um eine Militärfestung aus dem Bürgerkrieg mit restaurierten Bunkern und Artilleriegeschützen.


Mehr Grün, mehr Platz für Fußgänger und Fahrradfahrer, saubere Strände (an allen fünf Playas weht die Blaue Flagge, das internationale Qualitätssiegel). Auch mit den Kennziffern geht es bergauf. Einwohner: über 70.000 (mehr als 120 Nationalitäten). Touristische Übernachtungen: fünf Millionen. Immobilienpreise: plus 15 Prozent. Einen Bauboom wie in früheren Dekaden gibt es aber nicht – trotz grassierender Wohnungsnot wie fast überall in Spanien. Denn Platz für neuen Wohnraum ist kaum vorhanden. Das wenige freie Land zu beiden Seiten der Autobahn AP-7 ist im Flächennutzungsplan als Grünfläche ausgewiesen. Hier liegt der Parque Periurbano Pinar de los Manantiales, wo man sich zum Picknick unter Pinien trifft. Das Gebiet ist nach den Quellen (manantiales) benannt, deren Wasser schon in der maurischen Epoche Dutzende von Mühlen antrieb. Diesen molinos verdankt Torremolinos den zweiten Teil seines Namens.


Torremolinos Park Molino de Inca

Eine der ältesten Wassermühlen, Molino de Inca, wurde restauriert und bildet heute das Herzstück eines Botanischen Gartens mit 1000 Pflanzenarten. Dank des reichlich sprudelnden Wassers, das Kaskaden, Teiche und Springbrunnen speist, wächst und gedeiht alles prächtig: 150 Palmen, Gummibäume und Araukarien, ein 40 Meter hoher Nussbaum und ein mehrere Jahrhunderte alter wilder Olivenbaum.



Der Molino del Inca ist das, was der offizielle Tourismus-Slogan von Torremolinos (El Origen del Paraíso) verspricht: ein Paradiesgarten. Den über zwei Kilometer langen und etwas beschwerlichen Weg hierhin finden allerdings nicht alle, die unten am Strand Urlaub machen.

Ob die Dame mit süddeutschem Akzent, die in der Casa de los Navajos vom Drumherum enttäuscht war, ihn wohl gefunden hat? 

 

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