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Algeciras: Rumba am Honigfluss

  • oliversdrojek
  • 24. Mai 2021
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Okt. 2021

Wer vom Flughafen Málaga das Surfmekka Tarifa ansteuert, kommt an Algeciras nicht herum. Aber nur wenige Touristen halten in der industriell geprägten Hafenstadt an der Straße von Gibraltar, die in Sichtweite zu Marokko und der spanischen Exklave Ceuta liegt. Zu Unrecht, denn der Geburtsort des Flamenco-Genies Paco de Lucia ist ein faszinierender Schauplatz der Weltgeschichte und überrascht mit versteckten Schätzen der Natur.

Skulptur Paco de Lucía in Algeciras
Der berühmteste Sohn der Stadt: Flamenco-Genie Paco de Lucía

Der erste Eindruck ist nicht einladend. Mitten durch die Neustadt schneidet sich die A7. Die Autobahn verbindet die andalusischen Urlaubsküsten Costa del Sol und Costa de la Luz, zwischen den Ausfahrten Algeciras Norte und Sur ist sie ein Nadelöhr. Meistens herrscht Stau: Pkws, Wohnmobile und schwere Lkws, die den wichtigsten spanischen Frachthafen anfahren. Im Juli und August rollen zusätzlich 270.000 Autos aus Frankreich, Belgien, Holland und Deutschland heran: Marokkaner aus Paris, Brüssel oder Köln, die ihre Heimat besuchen. Es riecht nach Diesel und Schweröl. Ein gelblicher Dunst hängt über der Bahía de Algeciras, die im Norden an den Felsen von Gibraltar grenzt und von Raffinerien, Fabriken und Containerbergen flankiert wird. Die Fahrt ins Zentrum der 118.500 Einwohner zählenden Stadt führt auf einer 3 km langen Uferstraße an schmucklosen Hochhäusern vorbei. Wenige Palmen spenden wenig Schatten. Am Eingang zum Hafen bietet das 2-Sterne-Hotel Marina Victoria Einzelzimmer ab 30 Euro. Booking.com vergibt 6,8 Punkte. Schlechter geht eigentlich nicht.


Kolonialisten, Nazispione und Hollywood-Legenden

Touristen haben in Algeciras also nichts verloren? Pauschalurlauber sicherlich nicht. Individuelle Reisende mit offenen Augen dagegen können in der südlichsten Großstadt der Iberischen Halbinsel viel Interessantes entdecken. Ideal für ein oder zwei Nächte ist das Hotel Reina Cristina. Das Gebäude im viktorianischen Kolonialstil von 1901 liegt in einer weitläufigen Parkanlage mit hohen Palmen, Araukarien und Pinien. Die Panoramalage auf einem Felsplateau erlaubt einen weiten Blick über den Hafen und die Bucht. 1906 beherbergte das von der britisch-spanischen „Algeciras Gibraltar Railway Company“ erbaute Haus die Teilnehmer der Konferenz von Algeciras: Diplomaten aus Spanien, Frankreich, dem Deutschen Reich, Großbritannien und weiteren europäischen Staaten sowie Entsandte des Sultans von Marokko, die auf Initiative des deutschen Kaisers Wilhelm II. vier Monate lang in der Hafenstadt über die Zukunft Nordwestafrikas berieten. Ihr Ziel, die Eindämmung der französischen Hegemonie in dieser Region, erreichten die Deutschen nur teilweise. Frankreich bekam die effektive Kontrolle über Rabat und weite Teile der Atlantikküste zugesprochen. Spanien, das bereits seit dem 16. Jahrhundert die Exklaven Ceuta und Melilla besaß, übernahm den für die Franzosen weniger interessanten Norden. Historiker gehen davon aus, dass die Konferenz von Algeciras den ersten Weltkrieg fürs Erste verhinderte. Im Foyer des Hotels erinnern historische Fotografien an das weltgeschichtliche Ereignis: die Europäer im Frack, die Marokkaner in Djellabas, den traditionellen Gewändern mit Kapuze. Auch die Speisekarte des Mittagsmenüs vom 17. Februar 1906 ist gerahmt und schmückt eine Nische im Rezeptionsbereich.

Mit der Konferenz war die beste Zeit des Hotels Reina Cristina längst noch nicht vorbei. Nach einem Brand 1928 und Wiederaufbau, quartierten sich Künstler und Hollywoodstars wie Federica Garcia Lorca und Orson Welles ein. Während des Zweiten Weltkriegs nutzten deutsche Spione das Hotel, um die Lage rund um Gibraltar zu beobachten und die von Hitler für 1941 geplante Invasion der britischen Kronkolonie („Unternehmen Felix“) vorzubereiten. In den zu Dunkelkammern umfunktionierten Badezimmern entwickelten die Naziagenten geheime Fotografien. Über einen Tunnel gelangten sie direkt an die Meeresbucht, um bei Nacht und Nebel die Royal Navy mit Sprengsätzen zu attackieren. Nach dem Krieg zählten Charles de Gaulle, Franklin D. Roosevelt, Ava Gardner und Rock Hudson zu den illustren Gästen des Reina Cristina. Diese goldene Ära des Grand Hotels ging ab 1969 zu Ende. Das Franco-Regime schloss die Grenze zu Gibraltar und baute als Kompensation für den dadurch entstandenen wirtschaftlichen Schaden die Schwerindustrie an der Bucht von Algeciras auf. Der internationale Jetset machte fortan einen Bogen um Algeciras und entdeckte Marbella.


Vierzehn Mal am Tag nach Ceuta

Vom Reina Cristina aus erreicht man schnell den Hafen. Was sehr praktisch ist, wenn man die Fähre morgens um sieben nach Ceuta nimmt. Die Überfahrt in die spanische Exklave in Afrika dauert eine Stunde. Die Stadt wurde 1419 von den Portugiesen erobert und gehört seit 1580 zu Spanien. Heute hat sie rund 84.000 Einwohner, ein Rundgang ist Geschichtsunterricht live. Zu sehen sind beeindruckende Mauern der Seefestung, originelle Jugendstil- und Art-Deco-Bauten aus der Zeit des Spanischen Protektorats sowie der Parque Marítimo del Mediterráneo des kanarischen Künstlers und Architekten Cesar Manrique. Fast auf Schritt und Tritt wird deutlich, dass die Exklave EU-Außengrenze zu Afrika ist. Das Verhältnis zu Marokko, das Anspruch auf Ceuta erhebt wie Spanien auf Gibraltar, ist angespannt. Die Menschen dies- und jenseits der Grenze sind jedoch aufeinander angewiesen. Rund 40 Prozent der Bevölkerung sind Moslems. Bis zu vierzehn Fährverbindungen täglich schmieden feste Bande zum spanischen Mutterland und machen einen Tagestrip zu einer unkomplizierten Angelegenheit. Wie sehr die beiden Seiten des Mittelmeers miteinander verbunden sind, wird in Algeciras bei einem Spaziergang durch das Hafenviertel deutlich. In der engen Calle Teniente Riera herrscht zwischen Import-Export-Läden, Halal-Fleischern und Teestuben Basaratmosphäre. Es riecht nach Couscous, Tajine und gegrilltem Lamm. Abends sind in dieser Gegend nur wenige Spanier zu sehen. Für den Tapas-Bummel zieht man die gepflegteren Straßen zwischen dem Parque María Cristina und der Plaza Alta vor. Dort ist Algeciras richtig gemütlich: weißgetünchte Häuschen, akkurat gestutzte Palmen, keramikverzierte Fassaden und Balustraden, plätschernde Brunnen – fast wie in Cádiz oder Sevilla, nur ohne Touristenschlangen und mit halben Preisen für Speis und Trank.


Flamenco zwischen zwei Meeren

Schulterlanges Haar, Gitarre in den Händen, das rechte Bein lässig über dem linken Knie angewinkelt: So kannte die Welt Paco de Lucia, den unangefochtenen Meister der Flamenco-Gitarre. Vor dem Haupteingang des Hafens stellt eine Bronzestatue den genialen Musiker in seiner typischen Haltung dar. Der berühmteste Sohn der Stadt kam 1947 in der Calle San Francisco 8 zur Welt. In der Calle Barcelona lernte er das Gitarrenspiel von seinem Vater und Bruder Ramón, begleitete er seine Schwester beim Tanz. Er übte rund um die Uhr, vor allem von dem Tag an, als der Vater den Neunjährigen aus der Schule nahm. Das Instrument wurde für ihn zur Hoffnung, zur Perspektive, und der Ehrgeiz trug bald Früchte. Ab 1969 feierte er Triumphe mit dem legendären Sänger Camerón de la Isla. Das Duo revolutionierte den Flamenco in jeder Hinsicht. 1973 schaffte Paco de Lucia mit „Entre Dos Aguas“ („Zwischen zwei Wassern“) in die Hitparaden. Das Stück ist ein Evergreen mit einer Prise Pop und einem Hauch von Lateinamerika. Der Musiker stieg zum Flamenco-Großmeister auf und schlug zusammen mit John McLaughlin und Al Di Meola Brücken zum Jazz. Das Album „Friday Night in San Francisco“ machte ihn zum Superstar. Er trat mit Carlos Santana auf und zog sich nach Mexiko zurück, wo er 2014 starb. Demütig kommentierte Keith Richard: „You say I'm a guitar legend, you don't have a clue. There are only two or three guitarrists who can be considered legendary, and above all of them is Paco de Lucía“.

Viele Stücke des Meisters, der 37 Alben aufnahm, sind nach Straßen, Plätzen und anderen Orten in Algeciras betitelt: „Plaza Alta“ ist eine melancholische Soleá, „El Chorruelo“ eine rhythmisch-feurige Bulería, benannt nach einem heute nicht mehr vorhandenen Strand am Hotel Reina Cristina, in dem einer seiner Brüder als Kofferträger arbeitete. Seine letzte Ruhestätte hat Paco de Lucia auf dem alten Friedhof (Cementerio Viejo). Eine Bronzegitarre und täglich frische Blumen schmücken das Grab.

Cositas Buenas

„Casa Bernardo“ ist der Titel einer jazzigen Rumba von Paco de Lucia. Das sommerlich heitere Stück auf dem Album „Cositas Buenas“ („Schöne Dinge“) bezieht sich auf einen Chiringuito, eine Strandkneipe an der Playa de El Rinconcillo, die der Musiker in jungen Jahren frequentierte. Damals, vor dem Ausbau des Hafens und der Industrieanlagen, bot der Strand nördlich vom Zentrum ganz bestimmt ein anderes Bild als in der Gegenwart. Schöne Strände gibt es hier aber auch heute noch. Man findet sie nur nicht auf Anhieb, wie so vieles in Algeciras. Fünf Kilometer südlich vom Zentrum liegt die Playa de Getare: heller Sand, fast zwei Kilometer lang, türkisblaues Wasser, nette Chiringuitos, keine Hotelburgen. Im Süden grenzt das Areal an den Parque Natural del Estrecho, der sich bis nach Tarifa erstreckt. Der Naturpark an der Straße von Gibraltar ist ein transkontinentales Biosphärenreservat der UNESCO. Eine Serpentinenstraße und ein separater Radweg führen zur Punta Carnero, eine 200 Meter hohe Felsspitze über dem Mittelmeer, auf dem ein Leuchtturm thront. Auch dieser Ort hat Paco de Lucia inspiriert („Punta del Faro“). Der dortige Panoramablick umfasst Gibraltar, Ceuta und die Küste Marokkos. Wer hier zu versteckten Buchten wie Cala Cañonera und Cala Arenas wandert oder eine Kajaktour macht, entdeckt eine urtümliche Steilküste voller Magie und verliert die Industrieanlagen komplett aus dem Blick.




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