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Gibraltar: Affen im Schengenraum

  • oliversdrojek
  • 15. Mai 2021
  • 6 Min. Lesezeit

Aktualisiert: 18. Okt. 2021

Die britische Exklave an der Südspitze der Iberischen Halbinsel – mit 6,8 Quadratkilometern so klein wie die nordfriesische Insel Baltrum – zählte vor der Corona-Pandemie jährlich über 7 Millionen Touristen. Seit dem Brexit gehört Gibraltar nicht mehr zur EU aber erstmals zum Schengen-Raum. Die rund 33.000 Einwohner sind seit Ende März durchgeimpft und setzen auf eine Normalisierung der Beziehungen zum spanischen Nachbarn und die Rückkehr der Besucher.

Erster Mai morgens um neun am Grenzkontrollpunkt zwischen der andalusischen Küstenstadt La Línea de la Concepción und dem letzten britischen Überseegebiet in Europa. Auf der spanischen Seite prüft die Guardia Civil die Ausweise der wenigen Menschen, die zu Fuß oder im Pkw nach Gibraltar einreisen. Die Beamten tragen Mund-Nasenschutz und winken zügig durch. Ein paar Meter weiter kontrolliert die Gibraltar Borders & Coastguard. Die Officials tragen keinen Mund-Nasenschutz und winken noch schneller durch. Erleichtert nehmen die Grenzgänger ihre Masken ab – im Gegensatz zu Spanien ist in Gibraltar im Freien oben ohne erlaubt. Alle Einwohner der früheren Kronkolonie haben ihre Impfdosen erhalten: zweimal Biontech Pfizer, verabreicht durch die Royal Air Force.


Zu Fuß über die Rollbahn

An Werktagen herrscht an der Grenze Hochbetrieb: 15.000 Pendler aus Spanien passieren täglich die Kontrolle. Sie kommen aus La Línea de la Concepción, Algeciras, San Roque und anderen Orten am Campo de Gibraltar, wo die Arbeitslosenzahlen hoch und die Löhne niedrig sind. In Gibraltar, das mit 80.000 Euro hinter Luxemburg und der Schweiz eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen Europas hat, verdienen sie deutlich mehr als in Andalusien. Kaum noch relevant ist der einst sehr lukrative Schmuggel von Zigaretten und Alkohol. Seit 2019 passt Gibraltar die einschlägigen Steuern denen des spanischen Nachbarn an und verpflichtet sich, die Differenz bei den Verkaufspreisen unter 30 Prozent zu halten.

Der Weg von der Grenze ins Zentrum, den man im roten Doppeldeckerbus oder zu Fuß zurücklegen kann, führt über die Rollbahn des Flughafens, der 1939 von der Royal Air Force in Betrieb genommen wurde. Er befindet sich auf der Landzunge, die im spanisch-britischen Vertrag von Utrecht (1713) als neutrale Zone ausgewiesen ist, und wird fast ausschließlich von britischen Fluggesellschaften und Privatjets genutzt. Bei Start- und Landemanövern fällt der Schlagbaum, Fußgänger und Autofahrer haben kurz Zeit, den über 400 Meter hohen Kalksteinkoloss in seiner ganzen Pracht zu bewundern. Nach 15 Minuten Fußmarsch erreicht man die Altstadt mit dem Grand Casemates Square und der Main Street. Die 1,1 km lange Einkaufsmeile wird von farbenfrohen Häusern im Kolonialstil gesäumt. Spanische, englische und italienische Architektureinflüsse verdeutlichen die kosmopolitische Handelstradition am Zusammenfluss von Mittelmeer und Atlantik. Am Tag der Arbeit sind die meisten Geschäfte zu, die Straßen fast ausgestorben. Ein Pärchen aus Spanien schießt Selfies vor einer roten Telefonzelle, very british. Die meisten Einwohner Gibraltars, die sich selbst LLanitos nennen und „Andalunglish“ sprechen, hat es an die Strände und in die Berge Andalusiens gezogen. Viele haben eine Ferienwohnung im 10 km entfernten Beach- und Golfresort Alcaidesa oder eine Poolvilla im exklusiven Sotogrande.



Auf 600 Stufen zum Skywalk

Auch an den Pillars of Hercules ist wenig los. Die Bronzeskulptur erinnert an die mythologische Bedeutung des Felsens in der Antike. Damals wurde der Berg von den Römern Calpe genannt und symbolisierte die europäische Säule des Herakles. Das Denkmal, das eine Landkarte mit der damals bekannten Welt der Europäer darstellt, steht am südlichen Eingang zur Upper Rock Nature Reserve. An einem Wachhäuschen werden Non Residents zur Kasse gebeten. Rund 15 Euro kostet der Eintritt in das Naturschutzgebiet inklusive aller Sehenswürdigkeiten (Tropfsteinhöhle St Michael, Hängebrücke Windsor Suspension Bridge, das weitverzweigte Netz der militärischen Tunnel). Die meisten Touristen machen eine Minibustour oder fahren mit der Seilbahn hoch. Weniger bekannt ist, dass die Nature Reserve ein faszinierendes Wandergebiet mit einem 10 km langen Wegenetz ist. In den unteren Lagen ist es überraschend grün. Eine Herausforderung sind die Mediterranean Steps: Ausgehend vom Jews‘ Gate schlängelt sich der steile, einst vom britischen Militär angelegte Pfad die Ostseite des Felsens hinauf. Auf knapp zwei Kilometern und über 600 Treppenstufen, von denen einige über 30 Zentimeter hoch sind, bewältigt man einen Höhenunterschied von 240 Metern und wird mit beeindruckenden Ausblicken über das Mittelmeer bis zur Küste Afrikas belohnt. Das Ziel ist die O'Hara's Battery, eine Geschützstellung am höchsten Punkt des Felsens (426 Meter). Dort erwartet den Besucher ein 360-Grad-Panorama über die Meerenge hinweg bis zur marokkanischen Mittelmeerküste mit der spanischen Exklave Ceuta. Richtung Westen schweift der Blick über den Atlantik zur Nordwestspitze des schwarzen Kontinents mit der Metropole Tanger.




Die Mediterranaen Steps und andere Pfade wie der Inglis Way führen durch wildwucherndes Buschland mit hohem Lorbeer, knorrigen Steineichen und Olivenbäumen. Zwischen Rosmarin und Thymian leuchten die weißen und lilafarbenen Blüten der seltenen Gibraltar Schleifenbume (Iberis Gibraltarica). Eine Attraktion der besonderen Art ist der Skywalk: eine gläserne Aussichtsplattform, die 340 Meter über dem Meer an einem Bergkamm schwebt. Sie wurde 2018 vom Starwars-Interpreten Mark Hamill eingeweiht und bietet einen atemberaubenden Ausblick, den nicht nur die Menschen genießen: Auf der transparenten Konstruktion toben sich auch die legendären Berberaffen aus. Die Makaken aus der Familie der Meerkatzenverwandten, nach offiziellen Angaben 300 insgesamt, wurden einst von den Mauren auf den Felsen gebracht. Aus der Zeit der großen Belagerung durch die Spanier (1779-83) geht die Legende zurück, dass Gibraltar so lange zu Großbritannien gehöre, solange es Affen auf dem Felsen gibt. 1944 befahl kein Geringerer als Winston Churchill, die damals vom Aussterben bedrohten Tiere zu vermehren und zu schützen. Seitdem werden sie von der öffentlichen Hand gepflegt und gefüttert. Ihr Appetit scheint aber grenzenlos zu sein, wovon der Autor ein Lied singen kann. Just in dem Moment, als dieser seinen Rucksack öffnet, wird er von einem Affen attackiert. In Sekundenschnelle fingert das Tier ein Sandwich aus dem Rucksack. Damit nicht genug: Im Nu springt ein zweiter Makake aus dem Gebüsch, gemeinsam versuchen die beiden Spießgesellen den Rucksack zu stehlen. Dass der Besitzer sein Hab und Gut verteidigt, erhöht die Aggressivität der Affen, die hartnäckig am Rucksack zerren und bedrohlich mit der Zunge schnalzen. Zum Glück eilt ein zufällig vorbeikommender Jogger zur Hilfe. „Be careful! No food, no drinks! They are dangerous!“, warnt der LLanito den Besucher.


Detaillierte Informationen zur korrekten Interaktion mit den Affen erhält man auf einem Schaubild an der Princess Caroline's Battery: „Auf Taschen Acht geben! Füttern verboten! Die Tiere nicht überraschen, erschrecken oder in die Enge treiben! Von Mauern und Geländern fernhalten, um nicht von Jungtieren angesprungen zu werden!“. Die Princess Caroline's Battery, wo ein schweres Artilleriegeschütz von 1905 Richtung Spanien zielt, flankiert den Zugang zu den Great Siege Tunnels, eine der Hauptattraktionen Gibraltars. Heute ist das Tor jedoch geschlossen, wie so vieles im zweiten Corona-Frühling. „Wegen Instandhaltung“, erklärt ein Sicherheitsbeamter und verweist auf einen QR-Code, der zu einer App mit Bildern und Videos führt.


Offshore-Banken, Online-Casinos und Superyachten

Die Upper Rock Nature Reserve nimmt rund 40 Prozent des Territoriums von Gibraltar ein. Abgesehen von den Affen und einer Hand voll idyllischer Cottages ist das Naturschutzgebiet unbewohnt. Umso dichter bebaut sind die bewohnbaren vier Quadratkilometer. An der Westseite drängen sich an alten Docks und auf neu aufgeschütteten Flächen Dutzende von modernen Geschäfts- und Wohntürmen. Die neueren Anlagen wie das „Imperial Ocean Plaza“ mit blitzblanken Glasbalkonen haben über 15 Stockwerke und blicken auf die Bucht von Algeciras. Entlang der Promenade zwischen Marina, Ocean Village und World Trade Center wird das britische Überseegebiet seinem Ruf als Steuer- und Glücksspieloase auch optisch gerecht. Am Kai ankern Luxusyachten und die 140 Meter lange „Sunborn“, ein fest verankertes 5-Sterne-Hotelschiff mit 189 Zimmern, Spa-Bereich, Infinity-Pool und Spielcasino, das rund um die Uhr geöffnet ist. Penthäuser und Appartements in den besseren Lagen sind ab 1,5 Millionen Euro oder 2000 Euro Miete pro Woche zu haben. Der Gibraltar Business District ist ein Biotop aus Offshore-Banken, Consulting-, Fintech- und Blockchain-Unternehmen sowie Online-Casinos wie „888“, „Kindred“ und „Lottoland“. Rund 30.000 Unternehmen sind lauf offiziellen spanischen Angaben in GBZ registriert. Darunter seien Tausende von Briefkastenfirmen behaupten spanische Gibraltar-Kritiker wie der frühere Außenminister José Manuel García-Margallo. Her Majesty's Government of Gibraltar hält den Ball flacher und drückt die Zahl auf weniger als die Hälfte. Fakt ist: Es gibt weder Mehrwert- noch Kapitalertragssteuer, die Unternehmenssteuer beträgt 10 Prozent (Spanien 36 Prozent) und Glücksspielunternehmen zahlen 0,15% auf ihre Erträge. Um eine Steueroase handele es sich aber nicht, meint die EU, die Gibraltar nicht in ihrer Schwarzen Liste führt. Nichtregierungsorganisationen wie Oxfam sehen das anders und halten das Businessmodell des Zwergstaats für „egoistisch und sozial schädlich“.




Ob nun Oase oder nicht: Das letzte britische Überseegebiet in Europa boomt trotz Pandemie und Brexit – oder gerade deshalb. Auf den wenigen Freiflächen ragen Baukräne in den Himmel, an der historischen Devil's Tower Road 92 entsteht ein Wolkenkratzer. Am Abend des Maifeiertages bildet sich an der Grenze auf spanischer Seite eine mehrere hundert Meter lange Autoschlange. Wuchtige Geländewagen und schwere SUVs, schnittige Aston Martins und Porsche-Cabriolets, hier und da ein Ferrari, alle mit gelbem Nummernschild GBZ. Die Llanitos kehren aus ihren andalusischen Zweitresidenzen in den sicheren Hafen zurück. Montis Insignia Calpe.


Denkmal der Pendler auf spanischer Seite

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